Geschrieben von Christiane Stella Bongertz

Wie teilen uns verbindet

Einen Garten, ein Auto, Werkzeug oder Kleidung gemeinsam zu nutzen, ist nicht nur praktisch und nachhaltig. Es beschert uns auch ganz neue Kontakte. Autorin Christiane Stella Bongertz erlebte es in ihrem Wohnviertel – und schaute sich den Trend zum Sharing daraufhin einmal genauer an

Foto: Elaine Casap/unsplash

Der leichte Wind lässt Sonnenflecken auf dem Waldboden tanzen. Es duftet nach Laub, irgendwo zetert eine Amsel im Gebüsch. Vielleicht hat sie das alte Christiania-Lastenfahrrad erschreckt, mit dem mein Mann Joakim vor mir über den Weg rumpelt und aus dem mir unsere Tochter energisch zuwinkt, damit ich nicht den Anschluss verpasse: „Komm, Mami! Schneller!“ Ich muss grinsen. Über ihre Ungeduld – und weil ich mich freue, dass aus unserem Sonntagsausflug doch noch etwas geworden ist. Ohne das Lastenrad, das unser Nachbar Markus zur freien Nutzung für alle in unseren gemeinsamen Innenhof gestellt hat, hätten wir wohl passen müssen, als heute früh die Kette an Joakims Rad abgesprungen ist. So stand die Alternative schon bereit.

Als wir einzogen in unsere Wohnung im schwedischen Helsingborg, waren uns die Nachbarn noch genauso fern, wie ich es aus Essen, Köln und Hamburg kenne. Zwar gibt es hier, wie in schwedischen Städten üblich, einen lauschigen geteilten Innenhof mit Sitzecken und Blumenbeeten. „Geteilt“ war anfangs allerdings ein eher theoretisches Attribut. Sobald jemand draußen war, verzog sich der Nächste in den am weitesten davon entfernten Winkel. Mehr als ein „Hej“ wurde selten ausgetauscht. Doch so vor fünf, sechs Jahren begann sich etwas zu verändern. Das war, als Carina – eine Künstlerin, die hier schon als HippieTeenie in den Sechzigern gelebt hat – die Idee mit den Pflanzkübeln hatte. Dort hinein setzte sie Kräuter, in anderen Beeten wichen Zierbüsche Zucchini- und Quittenpflanzen. Ernten und Unkraut jäten durften ausdrücklich alle. Einige Monate später zogen neue Nachbarn ins Karree, Anna und David. Inspiriert von Carinas Vorstoß pflanzten sie Tomaten in ein Hochbeet. Und ergriffen die Initiative, den alten Gemeinschaftsgartenmöbeln einen neuen Anstrich zu verpassen. Als die beiden an einem sonnigen Tag gut gelaunt die Pinsel im Hof schwangen, ging es ein bisschen zu wie in Mark Twains Geschichte, in der Tom Sawyer einen Zaun streicht und alle Vorbeigehenden Lust bekommen, mitzumachen: Mein Mann fegte die Wege, eine Nachbarin kramte Salatsaat aus der Küchenschublade und bestellte das nächste Beet, ich kochte Kaffee und stellte ihn mit vielen Tassen nach draußen. Es war, als hätte unter der Oberfläche eine Sehnsucht nach Gemeinsamkeit geschlummert, die nur darauf gewartet hat, ein Ventil zu finden. 

„Es geht um den Zugang zu Dingen, wenn sie gebraucht werden, nicht um Besitz.“

Dominika Wruk, Wirtschaftswissenschaftlerin und Leiterin des Forschungsprojekts „i-share“

DIE SEHNSUCHT NACH GEMEINSCHAFT
Waren bei uns die neuen Nachbarn der Katalysator, helfen anderswo Online-Plattformen, sich zusammenzuschließen. Wie etwa nebenan.de, das Gründer Christian Vollmann 2014 nach dem Vorbild des US-amerikanischen Nextdoor nach Deutschland gebracht hat. Das Prinzip: Man registriert sich in einem Netzwerk, das die direkte Nachbarschaft abbildet. User sehen nur die Einträge von Leuten in ihrer Nähe. So können sie leicht gemeinsame Aktionen anstoßen, etwa ein Fest organisieren oder zusammen einem Bienenvolk eine Heimat geben. Sich helfen, wenn gerade FOTO ein Schrank eine Treppe hochgetragen werden muss oder eine Katze ausgebüxt ist. Und natürlich teilen – die selten gebrauchte Bohrmaschine zum Beispiel. Aber genauso eine grandiose Pflaumenernte, ein tolles Apfelkuchenrezept und freie Zeit zum Babysitten oder einfach zum gemeinsamen Kaffeeklatsch.

Online verankerte Nachbarschaftsnetzwerke sind eines der jüngeren erfolgreichen Beispiele der blühenden Sharing-Kultur. Nebenan.de hat schon über eine Million User. Aber auch schon lange bestehende Konzepte wie Mitfahrzentralen erfreuen sich wieder steigender Beliebtheit. Ergänzt werden sie von neuen Ideen wie etwa Apps, mit denen sich Tickets für öffentliche Verkehrsmittel teilen lassen. Oder Artotheken, wo sich jeder Kunst leihen und übers Bett hängen kann. Insgesamt etwa zweieinhalbtausend Sharing-Initiativen und -Organisationen gibt es allein in Deutschland. Diese brandaktuelle Zahl stammt aus dem Forschungsprojekt „i-share“, in dem Wirtschaftswissenschaftler von fünf Unis in Deutschland und Österreich die neue Lust am Teilen untersuchen. Einen der Gründe für den Trend zum Teilen vermuten Forscher im Wunsch nach menschlicher Nähe in einer Zeit, in der sich das soziale Leben immer mehr ins Internet verlagert – vielen Projekten dient das Teilen dagegen vor allem zur Organisation realer Begegnung. Dazu kommt ein verändertes Verhältnis zu Eigentum. Vor allem Jüngeren unter vierzig geht es verstärkt um den Zugang zu Dingen, wenn sie gebraucht werden, nicht um Besitz. Das bestätigt unter anderem auch eine im vorigen Jahr veröffentlichte Untersuchung der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers. Aber auch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 spielt eine Rolle, sagt Dominika Wruk aus dem „i-share“-Forscherteam: „Menschen haben sich einerseits nach neuen Einkommensquellen und andererseits nach Einsparmöglichkeiten umgesehen.“ So schaffen die einen ein zusätzliches Einkommen dadurch, dass sie nicht genutzten Wohnraum oder ihr Auto vermieten, die anderen sparen im Urlaub, indem sie genau dies in Anspruch nehmen. Aber neben diesem eher eigennützigen Trend hat die Krise noch etwas anderes angestoßen. „Sie hat eine stärkere Kritik am Wirtschaftssystem ausgelöst. Auch Forderungen nach alternativen Systemen werden lauter. Hin zu sozialer Fairness und mehr ökologischer Nachhaltigkeit“, sagt Dominika Wruk.

MEHR FAIRNESS UND NACHHALTIGKEIT
Eines dieser Systeme ist foodsharing.de, ein Netzwerk, in dem sich meine Essener Freundin Sanne engagiert. Sie ist eine der Ehrenamtlichen, die noch essbare, aber in den Läden aussortierte Lebensmittel vor dem Müll retten. Dazu holen die Helfer sie bei kooperierenden Betrieben ab und deponieren sie an zentralen Punkten, wo sich jeder daran bedienen kann. „Ich mache das, weil für jedes Lebensmittel Menschen gearbeitet haben, Wasser und Treibstoff verbraucht und Treibhausgase erzeugt wurden“, erklärt Sanne. „Außerdem habe ich hier viele tolle Freunde gefunden.“ Mitgegründet wurde der Verein vom Kölner Dokumentarfilmer Valentin Thurn. Er hatte für einen Film über die Wegwerfgesellschaft recherchiert, dass die Hälfte aller Lebensmittel im Abfall landet. Als er mit Foodsharing 2012 aktiv wurde, erlebte er unmittelbar den Effekt: Er gab Äpfel vom eigenen Baum weiter und erhielt prompt von einer jungen Frau selbst gezogenen Mangold. „Wer gibt, dem wird gegeben werden“, sagt er. Kann ich unterschreiben. Als wir neulich im Innenhof eine Runde ofenwarmer Zimtschnecken geschmissen haben, kam unsere Nachbarin Catharina kurz drauf mit einer Papiertüte voller Birnen aus ihrem Schrebergarten vorbei. Und unser selbst gebackenes Brot hat uns schon Grünkohl und Rote Bete eingebracht – alles bio. 

Foto: Spencer Davis/unsplash

„Da schmilzt das Argument, ökologisch zu leben sei zu teuer, wie ein Eis in der Sonne.“

Niko Paech, Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher. Er gilt als vehementer Verfechter der Wachstumskritik.

SCHÖNES FÜR WENIG GELD
Seit ich oft genau weiß, wo das, was auf meinem Teller liegt, herkommt, habe ich mehr Ehrgeiz entwickelt, auch den letzten Rest zu verwerten. Und mir ist bewusster, dass auch hinter Lebensmitteln, deren Erzeuger ich nicht kenne, mühevoller Einsatz steckt. Menschen, die sich in Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft – den Solawis – 30 hygge zusammenschließen, sind da sogar noch näher dran. Mitglieder erhalten regelmäßig eine Kiste mit allem, was der Hof eines Biobauern produziert. Dafür zahlen sie einen Monatsbeitrag und leisten einen gewissen Arbeitseinsatz bei Ernte, Transport oder Verteilung. Das kostet Zeit, lohnt sich aber. „Menschen, die sich zumindest graduell selbst versorgen, sparen viel Geld“, weiß der Ökonom und Wachstumskritiker Niko Paech, der gerade ein Forschungsprojekt zu „transformativen Wirtschaftsformen im Ernährungsbereich“ beendet hat. „Da schmilzt das Argument, ökologisch zu leben sei zu teuer, wie ein Stück Eis in der Sonne.“

Zeit ist in der Sharing Economy die wichtigste Währung – auch in Sachen Mode. Wer aus Altkleidern oder Stoffresten neue stylishe Stücke schneidert, macht das nicht in fünf Minuten. Und auch wer wie ich die meiste Kleidung secondhand kauft, braucht oft mehr Geduld, bis er etwas Passendes findet. Eine Alternative ist das Mieten. Bei der Hallenserin Künstlerin Astrid Bredereck kann man sich zum Beispiel online Kindersachen leihen – praktisch, die Kleinen wachsen schließlich rasant aus allem raus. Die Idee kam ihr, nachdem sie Schwierigkeiten hatte, gebrauchte Ökokleidung für ihr Baby zu finden. Kunden des Unternehmens – das sich Astrid inzwischen mit allen Mitarbeitern in einer Purpose GmbH teilt – können sich für den Zustand der Sachen entscheiden: neu, sehr gut, gut oder „Räubersachen“. So nannte Astrids Mutter die Klamotten, mit denen man sich bedenkenlos im Schlamm wälzen konnte und so nannte Astrid auch das Startup Räubersachen. „Damit gleich klar ist, dass die Sachen zum Tragen gedacht sind“, erklärt sie. Wenn sie dabei ein Löchlein bekommen, ist das kein Problem – das Stück wird geflickt und landet in der nächstgünstigeren Kategorie. „Durch das Reparieren fließt Liebe in die Sachen hinein“, erklärt Astrid. Man sieht’s: Die Löcher werden mit wunderschönen Motiven geschlossen, die sich aus Form und Struktur des Schadens ergeben, vom Kolibri übers Ginkgoblatt bis zum Frosch. „Ich liebe den Gedanken, dass Familien, die sich nur die ,Räubersachen‘ leisten können, die schönsten Kleider bekommen.“ Weil das so gut ankommt, sind inzwischen auch Workshops im Angebot, in denen man die vergessene Kunst des Lochstopfens lernen kann. 

Foto: Alyssa Srohmann/unsplash

EINE TIEFKÜHLTRUHE FÜR ALLE
Überhaupt ist Reparieren ein großes Thema in einer Kultur des Teilens. Eigentlich klar: Wenn viele Menschen dieselben Dinge nutzen, werden die stärker beansprucht. In vielen Städten gibt es darum mittlerweile Repaircafés, wo handwerklich Begabte ihr Wissen darüber teilen, wie sich Kaputtes wieder auf Vordermann bringen lässt. Eines soll demnächst im Kulturhaus entstehen, in dem das Studio der Band meines Mannes liegt. Seit ich das weiß, werfe ich defekte Geräte wie meinen alten Lautsprecher nicht mehr weg. Bei uns im Müllraum steht inzwischen ein Regal, in dem nicht mehr gebrauchte Dinge den Nutzer wechseln: Krimis, Geschirr, Spielzeug, Staubsauger. Im Schuppen zog eine Tiefkühltruhe für alle ein. So muss sich niemand so ein Trumm in die Wohnung stellen, und sie wird optimal ausgenutzt, das spart Energie. Ein Fensterputzgerät und anderes Werkzeug nutzen wir ebenfalls gemeinsam. Und keiner verdrückt sich mehr, wenn irgendwo im Hof eine Tür aufgeht. Ich freue mich schon auf unser Herbstaufräumen, bei dem wir gemeinsam Blätter fegen, die Sommermöbel einmotten und anschließend den ersten Glögg des Jahres trinken. Der Gewinn, den ich empfinde, seit unser Karree zu einer Art Dorf geworden ist, lässt sich nicht in Geld messen. Ich teile nicht nur, ich bin Teil von etwas geworden.

IN EUROPA werden jährlich 88 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen.
40 000 aktive Foodsaver in Deutschland, Österreich und der Schweiz versuchen, das zu ändern.

TEILEN MACHT glücklich, Egoismus nicht – das ergab eine Studie der Uni Lübeck. Die Teilnehmer durften wählen, ob sie eine bestimmte Summe für sich oder andere ausgeben.

WENN WIR alle jedes
gekaufte Kleidungsstück zwei Jahre anstatt wie im Schnitt üblich ein Jahr lang tragen würden, könnten wir die CO2-Emissionen um 24 Prozent reduzieren.