Geschrieben von Julia Berg

Liebe – ein Gefühl, das die Welt zusammenhält

Sie macht uns stark und glücklich. Manchmal kann sie aber auch ziemlich weh tun. Dennoch gehört sie zu einem erfüllten Leben unbedingt dazu. Durch sie begreifen wir den Wert unseres Daseins. Eine weihnachtliche Ode an die Liebe und wo wir sie überall finden

Foto: Jakob Owens/unsplash

Wir sitzen auf dem Sofa und schauen uns lange in die Augen. Wir machen das manchmal, vor allem, wenn wir uns ein paar Tage nicht gesehen haben. Ich fühle mich etwas schutzlos dabei, aber auch angenommen und aufgehoben. Im Blick des neuen Mannes an meiner Seite spüre ich ganz viel: Wärme, Verletzlichkeit, ein paar verschlossene Räume, aber auch eine große Offenheit und Tiefe. In solchen Momenten sind wir uns sehr nah. Seit wir uns kennen, hat sich meine Gefühlslage verändert: Ich bin weicher, aufmerksamer und durchlässiger in meinen Empfindungen geworden, im Alltag und im Umgang mit meinen Kindern. Meist fühle ich mich stark und gelassen. Gleichzeitig ist da aber eine neue Verwundbarkeit, weil ich weiß, dass ich das, was ich gefunden habe, auch verlieren kann.

KLEINE GESTEN AUS LIEBE
Ist das jetzt Liebe? Wie definiert man dieses Gefühl? Und welche Arten von Liebe gibt es? Liebe, so viel steht fest, trägt uns durchs Leben, kann ihm Sinn schenken. Früher haben viele Menschen einem Tagebuch ihre Freude, Sorgen und Nöte in Sachen Liebe anvertraut. Heute beschreiben wir unsere Gefühle eher in den sozialen Kanälen unter Hashtags wie #Spreadlove oder #TeamLiebe. Ich finde, die Adventswochen sind eine gute Zeit, um einmal genauer über das Thema nachzudenken. Auch die Weihnachtsgeschichte hat ja viel mit Liebe zu tun – mit dem Zusammenstehen als Paar in widrigen Zeiten, aber auch mit bedingungsloser Eltern- und schwer fassbarer Gottesliebe. Das Fest dazu bewegt uns ebenfalls emotional: Wir rücken zusammen, machen uns Geschenke, treffen unsere Familien. Und hoffen, dass alles möglichst harmonisch verläuft.

Es gibt viele Gesten, die wir aus Liebe machen: Der Vater, der seinen Sohn nur alle zwei Wochenenden sieht und dann immer in großen Mengen einkauft, was das Kind beim vorherigen Besuch gern gegessen hat. Der Mann, der seiner Frau zuliebe Wanderschuhe kauft und mit ihr die Berge hochkraxelt, obwohl das nie sein Ding sein wird. Oder die Freundin, die der anderen Socken strickt, weil die oft kalte Füße hat. Sie alle handeln aus Liebe. Wir denken aneinander, helfen, trösten, verhalten uns selbstlos und freundschaftlich. Und fühlen uns sicher und beheimatet, wenn wir zurückgeliebt werden: von Freunden, Eltern, Geschwistern, Partnerin oder Partner.

„Liebe ist ein Verlangen nach geistiger Nähe.“

Nora Kreft, Philosophin

Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass es in jedem Leben Zeiten gibt, in denen wir mit der Liebe hadern, uns von ihr verlassen fühlen: weil eine Beziehung endet, weil wir uns einseitig verlieben, sich der Kinderwunsch nicht erfüllt, weil wir mit unserer Familie im Clinch liegen, ein naher Mensch gestorben ist oder weil wir in einer fremden Stadt arbeiten und uns einsam fühlen. Auch die Corona-Pandemie trennt Menschen, die gern beisammen sein möchten. Vielleicht hilft es in diesen Situationen, sich klarzumachen, dass man Verbundenheit auch in kleinen Dingen und mit Menschen erleben kann, die man nicht so gut kennt: beim spontanen Kaffee mit der neuen Nachbarin oder indem man sich auf alte Hobbys besinnt oder ein Ehrenamt annimmt. Und darauf vertraut, dass auch wieder bessere Zeiten kommen.

Interessant ist, wie die Berliner Philosophin Nora Kreft von der Humboldt-Universität Liebe defi – niert: „Wenn ich mich frage, was romantische Liebe, Elternliebe und Freundschaft gemeinsam haben, dann finde ich: Es ist das Verlangen nach einer bestimmten Art von Gespräch, und zwar nach einem Gespräch über die Dinge, die uns wirklich bewegen.“ Allerdings fasst die Philosophin den Begriff Gespräch ziemlich weit. Es geht nicht unbedingt darum, ernste Unterhaltungen zu führen, es dreht sich vor allem um den Wunsch nach echter Nähe. Die kann durch Gesten hergestellt werden, durch intensiven Augenkontakt, ja sogar durch Herumalbern. Und weiter: „Wenn ich einen Menschen liebe, dann möchte ich, dass er einen Weg findet zu erblühen. Und ich wünsche mir, dass ich mit ihm wachsen darf.“ Spannend findet Nora Kreft auch, dass die Liebe ein Ur-Thema der Menschheit ist, dass wir auf Liebe existenziell angewiesen sind. Als Kind kann man ohne liebevolle Fürsorge nicht gedeihen. Und auch wir Erwachsenen haben die feste Vorstellung, dass Liebe zu einem guten Leben einfach dazugehört.

LIEBE ZU EINEM HOBBY MACHT GLÜCKLICH
Die Idee eines intensiven Dialogs gefällt mir: Denn der entsteht, wenn ich mit meinen Kindern koche, sie sich öffnen und von sich erzählen. Oder wenn ich mich bei einer Wanderung auf die Natur einlasse und mich als Teil von etwas Größerem wahrnehme. Dann fühle ich mich verbunden mit der Welt und bin gleichzeitig bei mir. Mein Vater erzählt Ähnliches über seine Liebe zur Kunst. Seit seiner Kindheit malt und zeichnet er gern, macht auch Holzschnitt-Arbeiten: „Die Stunden, in denen ich an meinen Bildern arbeite, sind für mich ein willkommener Rückzug. Ich erlebe wertvolle, stille Momente, in denen ich Glück empfinde und die nur mir gehören. Ich kann es auch nicht leiden, wenn mir dabei jemand über die Schulter schaut. Ich möchte dann lieber alleine sein. Für mich hat das etwas von Selbstverlorenheit im besten Sinne. Ich vergesse manchmal alles um mich herum.“

Foto: Melissa Milis Photography/ stocksy

Liebe zur Natur, Liebe zu einer Tätigkeit, die uns ausfüllt – ist das dasselbe wie zwischenmenschliche Liebe? Bei Nora Kreft geht das nicht so ganz durch als Analogie, für sie bedeutet Liebe im engeren Sinn, dass wir Verlangen nach einem Menschen haben, der für uns dann auch unersetzlich ist. Das sei ein wichtiges Merkmal von Liebe. Sie erklärt das an einem Beispiel: „Wenn uns jemand vorschlägt, dass wir eine bessere Kaffeemaschine haben können, wenn wir die alte hergeben, dann würden sich viele auf den Tausch einlassen. Aber wenn wir den Vorschlag bekommen, dass man uns über Nacht ein intelligenteres Kind in die Wiege legt oder einen schöneren Mann vorbeischickt, dann wären wir entsetzt.“ Die Liebe zu einem anderen Menschen ist also etwas Einzigartiges, lässt sich nicht rational erklären. Sie tut uns gut, hat das Potenzial, dass wir um der Liebe willen bessere Menschen werden möchten. Aber bei allem Glück fühlen wir uns auch verletzlich, haben Angst vor Ablehnung und vor dem Verlust unserer Liebe. Nora Kreft meint sogar: „Es ist, als ob uns erst die Liebe erklärt, was Sterben eigentlich bedeutet und was Alleinsein ist. Gleichzeitig hat Liebe auch das Potenzial, die Welt zu verändern.“ Denn durch die Würde, die wir in den Menschen sehen, die wir lieben, erkennen wir die Würde aller. Und wünschen uns eine gerechtere Welt. Vielleicht sollten wir uns gerade jetzt, wo wir so viel gesellschaftliche Spaltung erleben, öfter darauf besinnen, dass die Liebe das Potenzial hat, uns über alle Unterschiede hinweg zu einen. 

OHNE ALTE MUSTER LIEBEN KÖNNEN
Mit Andrea, einer Freundin meiner Nachbarin, unterhalte ich mich über ihr ehrenamtliches Engagement für jugendliche Geflüchtete. Treibt sie da auch Liebe an? „Es hat schon etwas damit zu tun“, meint Andrea, „aber das Wort stimmt noch nicht.“ Nach kurzem Nachdenken sagt sie: „Ich glaube, es ist eher so, dass ich das mache, weil es mir leichtfällt, weil ich gut mit anderen Lösungen für Probleme finden kann, ohne dabei die nötige Distanz zu verlieren. Mir macht das Freude.“ Und weiter: „Vielleicht ist das meine Stärke, dass ich Menschen und das Leben liebend akzeptieren kann, dass ich weiß, dass es nie ein einfaches Schwarz-Weiß gibt. Diese Sichtweise teile ich auch mit meinem Mann.“ Das Fundament ihrer Liebe hat den beiden, die mit zwei Pflegekindern leben, auch in schwierigen Zeiten geholfen. „Es gab Momente, wo es mit unserer Tochter und den daraus resultierenden Problemen so kompliziert war, dass ich dachte, unsere Beziehung überlebt das nicht“, gibt Andrea zu. „Was uns gerettet hat, war, dass wir selbst in den schlimmsten Momenten zueinandergehalten, dass wir nicht versucht haben, auch nur schlecht übereinander zu reden.“ Liebe bedeutet für Andrea: dass man möchte, dass es dem anderen gut geht, egal wie man sich gerade selbst fühlt. Mittlerweile haben die beiden ihre Krise überstanden. Und Andrea arbeitet an einer anderen Lebensliebe: Sie backt schon immer gern Kuchen und möchte ein Café eröffnen. 

„Es fördert die Stärke und Resilienz von Menschen erheblich, wenn sie in glücklichen Beziehungen leben.“

Stefanie Stahl, Autorin und Psychologin

Foto: BONNINSTUDIO/ stocksy

„Es fördert die Stärke und die Resilienz von Menschen erheblich, wenn sie in glücklichen Beziehungen leben“, sagt die Psychotherapeutin und Autorin Stefanie Stahl. Liebe ist nach ihrer Definition ein ruhiges, warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit. „Im Idealfall fühlen sich die Partner gegenseitig für ihr Wohlergehen verantwortlich, ohne sich dabei selbst aufzugeben.“ Eine solche Liebe könne dann auch Lebenskrisen wie Jobverlust oder Krankheit aushalten. Stahl: „Es hilft extrem, wenn man einen Partner hat, der Sicherheit geben und Trost spenden kann.“ Verantwortung, Respekt, Zärtlichkeit und Authentizität hält Stefanie Stahl für die Grundpfeiler einer tragfähigen Liebe. Ich finde vor allem den letzten Begriff spannend, denn was macht Menschen eigentlich authentisch? Für Stefanie Stahl hat das viel damit zu tun, dass man einen guten Zugang zu seinen Bedürfnissen und Gefühlen hat und diese auch äußert. In ihren Büchern beschäftigt sich Stahl oft mit dem „inneren Kind“, ein Begriff, unter dem sie die Summe prägender Kindheitserfahrungen versteht. Ihre These: Nur wenn wir uns mit den negativen Gefühlen von damals beschäftigen, laufen wir nicht mehr Gefahr, als Eltern oder Partner in alte Muster zurückzufallen und wie die ängstlichen Kinder zu agieren, die wir einmal waren. Wer zum Beispiel sehr perfektionistisch, zu harmonieliebend ist oder von Verlustängsten gequält wird, für den kann ein Blick aufs innere Kind aufschlussreich sein, glaubt die Psychologin. Führt eine solche Auseinandersetzung zu mehr Selbstliebe? „Ich mag den Begriff nicht“, meint Stefanie Stahl. „Aber ja, natürlich. Und am Ende reicht es, wenn wir uns okay finden.“

 

DIE LIEBE FEIERT UNERWARTET IHRE FESTE
Das Verrückte an der Liebe ist ja auch, dass sie uns unerwartet über den Weg läuft. Und meist dann, wenn wir am wenigsten mit ihr rechnen. Wir haben dann aber die Wahl: Wir können uns für oder gegen sie entscheiden. Ich habe nach dem Ende einer langen Partnerschaft nicht damit gerechnet, mich schnell wieder zu verlieben. Und es ist doch passiert. Ein paar Mal ist mir das auch mit Freundschaften so gegangen – dass überraschend neue Menschen quasi in mein Herz gefallen und dort geblieben sind. Oft feiert die Liebe auch einfach ein Fest mit den Menschen, die wir ohnehin lieben. So wie dieses Jahr auf Sylt, wo ich mit meiner besten Freundin ein Seminar besucht habe. Sie war von ihrem Job ziemlich erschöpft, ich eher kraftstrotzend. Trotzdem hatten wir eine tolle Zeit, die unsere Freundschaft intensiviert hat. Wir haben geblödelt, tiefe Gespräche geführt, Songs von vor 20 Jahren gehört, aber auch viel Rücksicht aufeinander genommen. Ich finde die Idee spannend, dass die Liebe immer wieder Türen öffnet, so wie in einem Adventskalender, wo man ja auch vorher nicht weiß, was man bekommt.

„Das Wort Selbstliebe mag ich nicht, es genügt doch, sich okay zu finden.“

Stefanie Stahl, Autorin und Psychologin

Steffi Schroeter ist vor knapp 15 Jahren ihrer Naturliebe gefolgt, hat ihre Arbeit als PR-Beraterin aufgegeben und ist mit Mann und zwei Söhnen von Hamburg nach Bornholm gezogen. „Seit wir auf der Insel leben“, erzählt sie, „fühle ich meine eigene Tiefe besser.“ Mittlerweile bietet Steffi Schroeter Naturcoaching für Frauen an, weil man ihrer Erfahrung nach am Meer leichter mit den eigenen Wünschen in Kontakt kommt. „Die Natur bewertet nicht“ meint Schroeter, „sie gibt uns das Vertrauen, dass alles gut ist, einen Rhythmus hat und wir uns dem Leben hingeben können.“ Besonders beeindruckend findet sie Wale. Mit den Meeressäugern fühlt sie sich verbunden, weil die – wie sie – immer wieder in die Tiefe abtauchen, aber auch regelmäßig zurück an die Oberfläche und ins Licht kommen. Die gefühlte Wesensverwandtschaft zu den Walen hat ihr Leben weiter verändert. Sie sagt: „Auch Liebe erwächst für mich aus der Tiefe. Und was ich liebe, möchte ich beschützen.“ Schroeter hat ein Wal-Buch geschrieben, bei einem Forschungsprojekt mitgearbeitet, und sie hat das Projekt byebyeplastik.com ins Leben gerufen. Mit ihren Mitstreitern setzt sie sich für ein plastikfreieres Leben ein und zeichnet nachhaltige Geschäfte mit einem Smiley aus. Aus der Liebe zu den Walen ist ein Engagement für die Umwelt entstanden. 

„In der Natur spüre ich meine Tiefe. Auch Liebe kommt aus dieser Tiefe.“

Steffi Schroeter, Autorin und Naturcoach

Leben und lieben gehören zusammen, in schwierigen Phasen dürfen wir auf die Liebe bauen. Der Psychologe Frank Tallis, der ein spannendes Buch über die Obsessionen von Liebenden geschrieben hat, fasst das so zusammen: „Es ist fast unmöglich, sich ein Leben ohne Liebe vorzustellen. Tatsächlich stellen wir, wenn wir Fragen zum Wesen der Liebe haben, auch sehr tiefgründige Fragen dazu, was es heißt, menschlich zu sein und wie man leben soll.“

Zum Weiterlesen

> Liebe verstehen <
Berühmte Philosophinnen und Philosophen treffen sich in Nora Krefts Buch Was ist Liebe, Sokrates? zu einem fiktiven Gespräch über das Phänomen Liebe (Piper, 18 Euro).

 

> Liebesfähiger werden <
Die Beschäftigung mit dem inneren Kind kann helfen, in Liebesbeziehungen jeder Art reifer zu agieren. Stefanie Stahl beschreibt in Das Kind in dir muss Heimat finden Übungen und gibt Tipps (Kailash, 14,99 Euro).

 

> Wal-Verwandtschaften <
Steffi Schroeter schreibt über Die Weisheit der Wale, ihre Liebe zur Tiefe und darüber, was wir von den Tieren lernen können (bene!, 18 Euro).