Geschrieben von Vivian Alterauge

Mein Stück vom Grün

Die Wartelisten von Gartenvereinen wachsen, Gemeinschaftsgärten in Städten sprießen auf Industriebrachen: Unsere Lust auf Gärtnern ist riesengroß, auch unsere Autorin nennt sich seit Neuestem Schrebergärtnerin. Warum tut uns das Buddeln so gut? Und wie finden wir dabei zusammen?

Foto: Alicia Brown/ stocksy

Und dann ist es so weit: Ich stehe in meinem Garten! Das hochgewachsene Gras kitzelt die Knie, aus den Hochbeeten wuchern Disteln und Brennnesseln, die Erde in den Beeten türmt sich – von Schrebergartenpingeligkeit keine Spur. Egal, fortan ist dies mein Stück Grün, das ich umgraben und bepflanzen kann. Obwohl hier noch nichts so aussieht, wie ich es mir wünsche, sehe ich mich bereits mit Freunden und Familie auf der Terrasse sitzen und Kräuterlimo trinken und freue mich darauf, mich nach einem Arbeitstag müde zu harken.

Es ist noch nicht lange her, da belächelte ich die Schrebergärtnerinnen unter meinen Freunden: zu viele Regeln, zu viel Arbeit. Dann kam die Zeit, in der ich monatelang auf Rückrufe von Gartenvereinen hoffte. Jetzt endlich hat sich mit dieser Parzelle ein kleiner Traum erfüllt. Der Traum von unserer eigenen grünen Insel.

Diese Garteneuphorie teile ich mit vielen Menschen: Jeder zweite Deutsche, erfahre ich bei der Recherche, besitzt einen eigenen Garten. Hinter dem eigenen Haus, vor der (Miet-)Wohnung oder, wie wir, im Gartenverein. Dazu kommen über 700 eingetragene Urban-Gardening-Standorte sowie weit über 100 Äcker verschiedener Anbieter, auf denen man sich ein fertig bestelltes Gemüsebeet anmieten kann. Gartenarbeit boomt. Den Gartentherapeuten Andreas Niepel, Leiter der Abteilung Gartentherapie an einer Reha-Klinik sowie Autor verschiedener Fachbücher zum Thema und Gründer von gartentherapie.de, wundert das nicht. „Mit einem Garten schaffen wir uns, frei nach dem Garten Eden, eine ideale Welt, einen Ausgleich für das, was uns im Alltag belastet.“ Der Garten quasi als Kontrastprogramm zu unserem digitalen, dauerfeuernden Leben – ein analoges Paradies, das nach einfachen Regeln funktioniert. 

„Mit dem Garten schaffen wir uns eine ideale Welt fern der Alltagsbelastung.“

Andreas Niepel, Präsident der Internationalen Gesellschaft GartenTherapie

WIE DER GARTEN UNSERER PSYCHE HILFT
Und das ganz unterschiedliche Bedürfnisse anspricht. Schon in der Antike schätzte man Gärten als gesellige Orte der Entspannung. Moritz Schreber brachte im 19. Jahrhundert schließlich die Idee in die Gesellschaft ein, dass Gartenarbeit gut für die Gesundheit sei. Er sorgte sich vor allem um die Familien, die in Städten in beengten Verhältnissen und ohne Grün lebten – und setzte sich für Orte ein, an denen die arme Bevölkerung Gemüse anbauen und sich die Kinder an der frischen Luft bewegen konnten.

Inzwischen aber, so klärt mich der Gartentherapeut Andreas Niepel weiter auf, geht es beim Gärtnern meistens um unser geistiges Wohlbefinden: Gartenarbeit befriedigt nämlich all unsere psychologischen Grundbedürfnisse. Zum einen erfahren wir die Natur buchstäblich hautnah und mit allen Sinnen – Mückenstiche und Sonnenbrand eingeschlossen. Wir riechen duftende Sträucher und knabbern die Beeren vom Strauch, wir schwitzen, sehen die Pflanzen erblühen und welken. Zum anderen kommen wir im Kleingarten oder beim Urban Gardening mit anderen ins Gespräch. Diese Erfahrungen regulieren unseren Hormonspiegel im Körper, wir bauen Stress ab und bekommen bessere Laune, weshalb man die Arbeit im Garten auch „Green Exercise“ nennt, wie die Psychiaterin und Therapeutin Sue Stuart-Smith in ihrem Buch Vom Wachsen und Werden (Piper) erzählt.

Foto: Jean Carlo Emer/unsplash

Mein kleiner Spross von Gartenwunsch wuchs mit der Geburt meiner Tochter, als das Draußensein eine neue Bedeutung gewann. Schließlich wusste schon Hildegard von Bingen: Der Mensch kann nur gedeihen, wenn die Natur gedeiht. Ich kannte zwar allerlei Studien, die belegen, wie glücklich Bäume und Felder machen, aber erst draußen bemerkte ich dann selbst, wie Ärger, Sorgen oder Wachstumsschmerzen abfielen. Und ich erfuhr, wie süß die Belohnung des Gärtnerns schmecken kann. Denn mittlerweile hatten wir – noch gartenlos – angefangen, auf dem Balkon Gurken, Tomaten und Erdbeeren anzubauen. „Selbst gezogenes Gemüse wird immer besser schmecken als das gekaufte, schon allein, weil wir uns damit für unsere Arbeit belohnen“, erklärt mir Gartentherapeut Niepel. Tobias Paulert, Mitbegründer der Mietgärten Ackerhelden, kennt einen weiteren Grund, warum es die selbst gezogene Möhre sein muss: „Menschen wollen wieder viel mehr wissen, woher ihr Gemüse kommt. Dazu gehört auch, in welchen Böden sie gewachsen sind.“ Wer einen Garten anmietet, erntet nicht nur das eigene Bio-Gemüse, sondern sorgt gleichzeitig dafür, dass die Erde biologisch bewirtschaftet wird – so bekommt man nicht nur etwas für seine Mühe, sondern gibt auch etwas Sinnvolles an die Natur zurück. Irgendwann wollte auch ich gärtnerisch wachsen; von vier Quadratmetern Balkon zu knapp 400 Quadratmetern Schrebergarten. Bei der großen Nachfrage nach Parzellen ist das, zumindest in der Großstadt, eine Geduldsprobe.

"Beim Gärtnern ist es leicht, Verschiedenheit und Anderssein anzuerkennen.“

Andrea Baier, Entwicklungssoziologin, die zu Urban Gardening forscht

ZITTERNDE ARME UND GARTEN-KATHARSIS
Monate und flehende Telefonate später fanden wir schließlich doch „unsere“ Parzelle: Viel zu weit von unserer Wohnung entfernt, karg bepflanzt. Wir unterschrieben dennoch, und dann stand ich da, in Gummistiefeln und Latzhose, Karikatur einer Gärtnerin, und pflanzte zunächst – es war Hochsommer und alle Sähfristen waren verstrichen – wie berauscht Blumenstauden in die Erde, Sonnenhut, Rittersporn, Lavendel, es sollte leuchten und duften. Ich schwitzte und ächzte unter den schweren Säcken mit Erde, hob mit Zitterarmen und Wackelknien Spaten und Harke an, abends fühlte ich mich, als hätte ich einen Ironman hinter mir. Aber: Die Gedanken ruhten und in meiner Erschöpfung fühlte ich mich selig. Therapeutin Sue Stuart-Smith spricht daher auch von einer „Garten-Katharsis“ nach getaner Arbeit. Ich kann sie sehr gut verstehen.

Doch Garten ist natürlich nicht immer pures Glück: Die ersten Schnecken tolerierte ich, als sie aber binnen weniger Tage alle Dahlienköpfe abknabberten, wurde ich zum ersten Mal wütend auf die Natur. Seitdem karren meine Familie und ich sämtliche Schnecken auf eine Brache am Ende der Gartensiedlung, in der Hoffnung, sie kehren nie wieder zurück. Gärtnern bedeutet auch, Niederlagen hinzunehmen. „Wir lernen auszuhalten“, sagt Andreas Niepel. Das klappt im Grünen oft schonender als im echten Leben und kann eine Übung für kommende Krisen sein.

Foto: - Charlotte Schreiber

RATSCHLÄGE ÜBER DEN GARTENZAUN
Sehr schnell verstand ich auch, dass Gärten, wie Niepel erklärt, „Orte der Integration“ sind. An unserem zweiten Tag streckte unsere Nachbarin Gisela zum ersten Mal ihren Kopf über den Zaun: „Ihr seid also die Neuen. Na, da habt ihr ja viel Arbeit vor euch“, stellte sie fest, und bevor ich etwas erwidern konnte, drückte sie uns einen Ableger ihrer Himbeeren und eine Schubkarre für das Kind in die Hand, die habe sie noch über.

Diese Gartenzaungespräche, lernte ich, sind der soziale Kitt im Vereinswesen. Ob man die riesigen Sonnenblumen des Nachbarn lobt, nach einer Sense für das hochgeschossene Gras fragt oder dem ultimativen Wühlmausschreck: Immer hat jemand eine Antwort für uns, manchmal deutlicher, als wir es uns wünschen. Am Ende schätzen wir auch ein über den Zaun gebelltes: „Passt auf, dort liegt die Stromleitung!“ Unser Gartenwissen wuchs binnen kurzer Zeit wie von selbst.

GEMEINSAM ETWAS BEWEGEN
Gärtnern schweißt zusammen. Das beobachtet auch Andrea Baier. Sie arbeitet bei der Stiftung Anstiftung und forscht seit Längerem zum Urban Gardening. „Beim Gärtnern ist es vergleichsweise leicht, Verschiedenheit und Anderssein anzuerkennen und auf dieser Grundlage das Zusammenleben auszuhandeln“, sagt sie. Ob beim Zaungespräch oder der Planung eines Gemeinschaftsgartens in der Stadt. „Dort braucht man viele Talente“, so Baier, theoretisch, handwerklich, aber auch sozial: „solche, die sich mit Kräutern auskennen, Leute, die Hochbeete bauen, und solche, die gut mit Kindern umgehen können.“ Plötzlich kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen, die aber gemeinsam etwas im Kleinen bewegen wollen: etwa ihr Viertel verschönern, Insekten Lebensraum bieten oder ökologisch gezogenes Gemüse ernten. „Man tauscht und teilt, merkt aber auch, dass Wachstum nicht geradlinig ist, sondern es immer wieder ein neues Werden und Vergehen gibt. Die gemeinsame Verantwortung für Natur und Gesellschaft wird so sichtbar“, sagt Baier. Sie freut sich besonders darüber, dass in Urban-Gardening-Projekten oft Obdachlose und Geflüchtete eingeladen werden mitzumachen und sich so wieder oder noch mehr in der Gemeinschaft verwurzeln.

Mit unserem Garten sind auch wir als Familie noch mal anders zusammengewachsen, haben gelernt, Bedürfnisse, etwa nach Ruhe, offener anzusprechen – und: Der Garten ist unser erstes großes Projekt zu dritt. Der britische Arzt und Schriftsteller Thomas Fuller sagte einst: „Es wachsen viele Dinge im Garten, die dort nie gesät wurden.“ Jetzt weiß ich, was er damit meint.

Gärten für alle

> Schrebergarten <
Auf der Seite des Bundesverbands Deutscher Gartenfreunde (kleingarten-bund.de) finden sich alle wichtigen Infos.

 

> Mietgärten <
Hier müht man sich nicht mit Samenkauf und Anzucht, sondern mietet eine bestellte Parzelle. Werkzeuge, Gießwasser, Pflegeanleitungen und Beratung inklusive. Ab ca. 200 Euro im Jahr, etwa bei ackerhelden.de (bio) oder meine-ernte.de

 

> Urban Gardening <
Mitmachen darf jeder und jede: Es gibt ganz kleine Projekte mit ein paar Plastiktöpfen und große wie die Prinzessinnengärten in Berlin. Infos z. B. über anstiftung.de