Geschrieben von Christiane Stella Bongertz

Warum wir die Natur so lieben und brauchen

Draußen ist alles besser, schöner, leichter. Wenn uns die Sonne wärmt genauso wie bei einem Spaziergang durch den Frühsommer­regen. Doch manchmal vergessen wir im Alltag, wie viel uns die Natur schenken kann – und bleiben drinnen. Christiane Stella ­Bongertz plädiert dafür, ihr zu jeder Jahreszeit mit offenen Armen entgegenzulaufen – und weiß, was wir dabei von Skandinavien lernen können

Foto: Jovana Vukotic/ stocksy.com

In der Luft liegt der Duft von Obstblüten. Vögel zwitschern, Hummeln summen träge um Weiden und Hortensien. Die Wiese vor mir erstreckt sich weit bis zu den knorzigen Apfelbäumchen und ist gesprenkelt von Gänseblümchen. Wenn ich ein Bild dafür finden sollte, was mich in meiner Kindheit am glücklichsten gemacht hat, dann ist es dieses: der riesige Garten, der zu unserer Mietwohnung gehörte, die so günstig war, weil ihre Bewohner sich um die rund 2000 Quadratmeter zu kümmern hatten. Dann starb mein Vater. Neben der Trauer musste der Alltag neu organisiert werden, meine Mutter die Familie versorgen. Zeit für mich war rar. Nicht meine Spielsachen halfen mir jetzt, sondern der Garten. Im Gras zu liegen, Wind und Sonne auf der Haut zu fühlen und in die Zweige des Kirschbaums zu schauen, das war wie eine liebevolle Umarmung. Und die winzigen Blättchen, die sich durch klebrigen Erdboden ans Licht schoben, gewachsen aus unscheinbaren Krümeln, die ich Tage zuvor ausgesät hatte, zeigten mir: Man kann auch stark sein, wenn man noch ganz klein ist.

DIE LIEBE ZU ALLEM LEBENDIGEN
Ich ahnte als kleines Mädchen nicht, dass das, was ich da erlebte, zunehmend Gegenstand moderner Forschung war: Woran es eigentlich liegt, dass es uns draußen immer gleich viel besser geht. Damals, 1984, wurde gerade das Buch Biophilia des Natur – forschers Edward O. Wilson heiß diskutiert. „Biophilia“ – zu deutsch Biophilie – ist „die Liebe zu allem Lebendigen“. Das ist ein Begriff, den der Psychoanalytiker Erich Fromm in den Sechzigerjahren geprägt hat. Wilson hatte nun die sogenannte Biophilie-Hypothese aufgestellt: die Annahme, dass diese Naturliebe in unseren Genen steckt, weil sie mal ein evolutionsbiologischer Überlebensvorteil war. Zum Beispiel finden die meisten Menschen spontan Bäume am schönsten, die kräftige Äste haben, Früchte tragen oder mit ausladenden Kronen Schatten spenden. Für unsere Vorfahren waren das direkte Überlebensvorteile: Fluchtmöglichkeit, Versteck oder Ausguck, Nahrungsquelle oder Sonnenschutz. Ich wiederum liebe alle Bäume, so krumm und schief sie auch sein mögen. Auch im Winter, wenn sie mit ihren filigranen Verästelungen wie Scherenschnitte vor dem Himmel stehen. Trotzdem merke ich jedes Jahr, wenn ich endlich wieder frische Blätter sehe, wie ich innerlich aufatme. Mir kann es nicht grün genug sein. Nicht nur deswegen mache ich mir Sorgen, wenn ich vom Insektensterben lese, von Klimawandel und Artenrückgang. Aber dann höre ich von Ideen wie den „Bee Stops“, begrünten Bushaltestellendächern, die es in immer mehr Städten gibt. Oder von „Plant-for-the-Planet“, das der damals erst neunjährige Felix Finkbeiner 2007 mit seinem Vater ins Leben gerufen hat. Die Initiative hat seitdem fast 14 Milliarden Bäume gepflanzt. So etwas gibt mir Hoffnung: Wir können etwas tun! Und es spornt mich an, die Tür nach draußen aufzureißen und selbst loszulegen mit dem Pflanzen und Säen. 

"Ein Drittel der Menschen geht nicht so oft ins Grüne, wie sie eigentlich möchten."

Das war allerdings nicht immer so. Bin ich als Kind noch ganz selbstverständlich meiner Natursehn – sucht gefolgt, tat ich das über lange Zeit als Erwachsene nur noch sporadisch. Damit stehe ich nicht allein. Laut einer Umfrage unter 4500 Menschen in neun Ländern – darunter Deutschland – ist ein Drittel der Menschen nicht so oft im Grünen, wie sie eigentlich möchten (Quelle: Global Green Space Report). Bei mir gab es Tage, an denen ich keinen Fuß vor die Tür setzte, obwohl ich mir die Zeit selbst einteilen kann. Meistens, weil ich glaubte, immer weiterarbeiten zu müssen. Manchmal, weil ich es für zu kalt, zu nass, zu windig hielt. Als ich mitten im Ruhrgebiet und in Köln gelebt habe, auch, weil ich das Gefühl hatte, von „richtiger“ Natur zu weit entfernt zu sein. Dabei zeigt sich in Studien immer wieder, dass schon die kleinste Grünanlage positiv auf Psyche und Körper wirkt. Die Bad Honnefer Therapeutin und Achtsamkeitstrainerin Astrid Katzberg etwa zeigt gestressten Menschen, wie der achtsame Aufenthalt draußen ihnen helfen kann, mit den täglichen Herausforderungen besser klarzukommen. „Die staunen dann, dass es viel leichter ist, sich vorzustellen, wie man sich stabil im Boden verwurzelt, wenn man neben einem Baum steht als drinnen.“ Dass sie ihre Workshops in der Natur abhält, geht auf einen eigenen Aha-Moment zurück: Während ihrer Achtsamkeitsausbildung sollte sie im Seminarraum meditieren, schweifte aber immer wieder ab. „Ich bin schließlich einfach rausgegangen. Plötzlich klappten die Übungen, weil ich mich etwa auf Vogelgezwitscher konzentrieren konnte.

Foto: Birgit Loit/unsplash

AM PULS DER NATUR
Für mein Aha-Erlebnis in Sachen „Zurück zur Natur“ brauchte es eine Trennung – und den Entschluss, für ein paar Monate Abstand in einem Holzhäuschen in Schweden zu gewinnen. „Zieh dir was an und los“, bestimmte gleich am ersten Tag meine Nachbarin und Vermieterin Birgitta, der ich meine Situation kurz umrissen hatte. Meinen Einwand, ich müsse noch an den Rechner, wischte sie beiseite. Birgitta ist begeisterte Anhängerin des „friluftsliv“, des aktiven Lebens an der frischen Luft – in allen skandinavischen Ländern eine große Sache. Allein in Schweden sind knapp 1,6 Millionen Menschen – von zehn Millionen Einwohnern – Mitglieder in den 26 Freiluftorganisationen, die sich dafür einsetzen, dass jeder die Möglichkeit hat, Zeit in der Natur zu verbringen (Quelle: Svenskt Friluftsliv, Dachverband der schwedischen Freiluftorganisationen). Als Namensgeber der Bewegung gilt der norwegische Dichter Henrik Ibsen. Der hatte 1859 in seiner Ballade „På Vidderne“ (Auf den Höhen) über einen jungen Bauern, der in einer Hütte im Gebirge in Klausur geht, zum ersten Mal den Begriff „friluftsliv“ benutzt. Das Leben am Puls der Natur, das den Alltag in den damals großenteils bettelarmen nordischen Ländern ohnehin bestimmte, zum Ideal zu erklären, gefiel den Menschen.

Birgitta schleppte mich fortan täglich mit auf ihre langen Spaziergänge mit Jack Russell Asta. Wetter egal. Am Wochenende verordnete sie mir die „iskristallerna“, die Eiskristalle, eine Damengruppe, die sich in einer Holzsauna am Strand traf. Den Namen begriff ich erst, als die Mädels nach dem Schwitzen die Außentür aufrissen und den Steg entlangschlenderten – zum „dopp“, dem Eintauchen ins Meer. Zwar lag schon Frühling in der Luft, das Wasser hatte aber noch Kühlschranktemperatur. Ich kam mir vor wie auf dem Gang zum Schafott. Und dann? Erlebte ich den reinsten Endorphinrausch. Vor allem war ich stolz auf mich, dass ich nicht gekniffen hatte. „Wer bei Wind und Wetter rausgeht, übt Akzeptanz“, sagt auch Astrid Katzberg, „und gewinnt Optimismus, mit jeder Situation fertigzuwerden. Das sind schon zwei Schlüssel zur Resilienz, also seelischer Widerstandskraft.“ Auch ich merkte: Es geht mir nicht nur besser, sondern es geht auch weiter! So ähnlich fühlten sich wohl auch die Fabrikarbeiter zu Zeiten der Industrialisierung, die in Schweden zu den ersten Nutznießern des „friluftsliv“ gehörten: Ihnen hatte man einst ebenfalls Frischluft verordnet, zu Fuß oder auf Skiern. Und siehe da: Gesundheit und Wohlbefinden besserten sich. Work-Life-Balance, lange bevor es den Begriff gab. Von Terpenen in der Waldluft, die die Immunabwehr ankurbeln, hatte da noch niemand gehört. Auch nicht davon, dass jeder Blick ins Grüne den Ruhenerv des Gehirns aktiviert, der Stresshormone stoppt und die Konzentration verbessert. Man hatte beobachtet: Natur tut gut. Das reichte.

"Jeder Blick ins Grüne aktiviert den Ruhenerv im Gehirn und stoppt Stresshormone."

Foto: David Macu/unsplash

JEDEN TAG RAUS – GANZ NORMAL IN SKANDINAVIEN
Mittlerweile lebe ich seit über elf Jahren in Schweden, inzwischen mit Mann und Kind und in der Stadt (so viel zum Thema „ein paar Monate Abstand“). Dabei geholfen, meine Outdoor-Gewohnheiten auch hier beizubehalten, hat mir, dass es so normal ist! Spätestens ab vier Uhr nachmittags passieren immer mehr Menschen mein Fenster am Schreibtisch. Viele haben ihre Kinder dabei, andere einen Ball unterm Arm, manche tragen in einem Korb die allgegenwärtige „termos“ samt Zimtschnecken in die nächste Grünanlage. Auch die skandinavische Berufswelt funktioniert nämlich nach der Devise: Beizeiten (raus)gehen erhält Energie und Motivation. Überstunden gelten nicht als Zeichen des Engagements, sondern dafür, dass etwas besser organisiert werden muss. Der Wirtschaft schadet’s nicht, die floriert im Norden. Grund genug, auch in anderen Ländern endlich umzudenken.

Seit einiger Zeit drehe ich meine erste Runde schon, nachdem ich meine Tochter in den Kindergarten gebracht habe. Ich lausche dem Rauschen der Blätter, spüre den Tau, wenn ich barfuß über die Wiese im Park laufe. Das ist wie ein Miniurlaub, dabei kommen mir Ideen, wie ich meine Aufgaben angehen kann. Trotz einer halben Stunde später am Schreibtisch starte ich mit Vorsprung in den Tag. Ab und zu mache ich auch ein Foto für Instagram. Das hat wiederum eine Freundin in Süddeutschland inspiriert: „Ich bin so nah an toller Landschaft, aber sehe unter der Woche kaum was davon. Jetzt radele ich vor der Arbeit an den See – und der Tag ist ein anderer.“ Überhaupt beobachte ich, wie meine deutschen Freunde und Bekannten eigene Rituale entwickeln, um mehr Natur in ihr Leben zu lassen. Einige haben einen Wohnwagen auf einem Campingplatz, andere verbringen jede freie Minute im Schrebergarten. Eine Freundin beobachtet Vögel, eine andere packt die Staffelei ein, setzt sich in den Park und malt. Einen weiteren Weg hat die Marketingexpertin Ina Echternach gefunden, die als Ausgleich zum Job künstlerische Naturfotos macht. (Inas Homepage: polaroid-fotografie.de) Sie erlebt die Natur intensiver, seit sie von digitaler Fotografie auf Polaroid umgestiegen ist: „Ich mache unter anderem Tryptichons, also drei Bilder versetzt nebeneinander, die kann man nicht schnell schießen. Früher habe ich den Wald schnell durchquert – heute brauche ich eine Stunde für einen Kilometer. Das Langsame hat mich verändert. Ich lebe noch nachhaltiger und bin ausgeglichener. Manchmal liege ich in der Hängematte und schaue, wie sich die Baumkronen im Wind bewegen, bis ich völlig im Einklang bin.“ Dieser Einklang spiegelt sich auch in ihren atmosphärischen Bildern, die vielen Besuchern ihrer Ausstellungen Lust machen, selbst rauszugehen. Das freut sie: „Denn nur, was man kennt, findet man schützenswert.“

KLEINE TROLLE IM WALD
Das ist dann auch in Zeiten des Klimawandels der wohl wichtigste Gedanke der Freiluftbewegung – und der beste Grund, seine vier Wände zu verlassen: unsere angeborene „Liebe zu allem Lebendigen“ zu nähren, damit wir die Natur, unsere Lebensgrundlage, erhalten. Die Freiluftorganisationen beraten darum in allen skandinavischen Ländern Pädagogen, wie man fast jedes Fach auch mithilfe der Natur draußen unterrichten kann. Und sie organisieren hier in Schweden die beliebten Skogsmulle-Gruppen. Ein „skogsmulle“ ist ein Waldtroll, und die Trolle sind in diesem Fall Kinder, die am Wochenende draußen spielen und die Pflanzen- und Tierwelt erkunden. Dabei lernen sie auch gleich, wie das Jedermannsrecht funktioniert, das in Schweden, Norwegen und Finnland gilt und das es in ähnlicher Form sonst nur noch in Schottland und der Schweiz gibt: Man darf sich frei in Wald und Feld bewegen, sogar auf Privatgrund zelten und Früchte für den Eigenbedarf pflücken. Bedingung: Man macht nichts kaputt und nimmt seinen Dreck wieder mit. Ganz einfach eigentlich. Wenn sich alle daran halten würden, hätte unsere Erde ein paar Probleme weniger.

Ins Grüne zu gehen ist also in jeder Hinsicht eine gute Idee. Findet auch meine Tochter. Die wedelt nämlich schon die ganze Zeit mit ihrer kleinen Harke vor meiner Nase rum, damit wir jetzt endlich in unserem Innenhofgarten Feuerbohnen pflanzen. Und Gartentroll zu sein, das ist doch schon mal ein ziemlich guter Anfang.

Zum Mitnehmen

> Gärtnern und integrieren <
In Skandinavien verbreitet sich die Idee der „naturbasierten Integration“. In Projekten rund um Wald, Feld oder Gartenbau finden z. B. Geflüchtete Anschluss und lernen die Kultur kennen. Info: norden.org/en/ publication/nature-based-integration

 

> Sein Zelt aufschlagen < „1nitetent“ möchte das Jedermannsrecht auch außerhalb Skandinaviens verbreiten und funktioniert wie Couchsurfing. Grundbesitzer, die nichts dagegen haben, wenn in ihrem Garten ein Zelt aufgebaut wird, können sich eintragen: 1nitetent.com

 

> Zum Nachlesen <
In Der Heilungscode der Natur (Goldmann, 11 Euro) fasst der österreichische Biologe Clemens G. Arvay zusammen, wie wir alle von und in der Natur profitieren können. Sehr spannend!