Landleben

Auf die Kuh gekommen

Eigentlich ist Madeleine Becker Historikerin. Doch als sie auf einem Bauernhof Urlaub macht, merkt sie: Hier gehöre ich hin. Und tauscht Hörsaal gegen Kuhstall. Ein Entschluss, der ihr Leben ordentlich durcheinanderwirbelt

Geschrieben von JANA LUCK, Fotos: STEFANIE BRANDWEIN, JULIA JAKOB, THOMAS NEUBAUER

Kärnten, Österreich. Später Oktober. Eine junge Frau – Madeleine Becker – sitzt auf der Weide, die Beine ausgestreckt, Gummistiefel an den Füßen. Rechts und links heben sich Berghänge in die Höhe, dazwischen rauschen Tannen. Auf ihrem Schoß hat eine Kuh ihren Kopf abgelegt, der große Körper mit dem glänzenden Fell ruht auf dem Gras. Mit geschlossenen Augen liegt die Kuh da, ihr Kopf so groß wie der Oberkörper der Frau. Man findet das Bild auf Madeleines Instagram-Account. Zu diesem Zeitpunkt ist sie kurz davor, Milchbäuerin zu werden. Nur weiß sie das in diesem Moment noch nicht. Eigentlich hat Madeleine gelernt, Archive zu sortieren und historische Urkunden zu deuten. Nicht, wie man einem Kalb auf die Welt hilft oder Apfelbäumen die Äste so stutzt, dass sie mehr Früchte tragen. Dabei ist genau das ihr Kindheitstraum: ein Leben auf dem Bauernhof.

28 Jahre ist Madeleine alt. Folgt man ihr als @frau_ freudig auf Instagram, lernt man eine Frau kennen, die sagt, was sie denkt, die Pilze im Wald sammelt und Zwetschgen einkocht. Die sich hauptsächlich vegan ernährt und jeden Tag Kühe melkt, aber ihre Milch noch nie getrunken hat. Die, wie sie sagt, für ihre Tiere arbeitet, nicht mit ihnen.

Dass Hühner sehr eigenwillige Wesen sind, weiß Madeleine mittlerweile. Und auch, dass sie träumen – und dabei lustige Geräusche machen. „Eine Mischung aus Schnurren, Pfeifen, Gurren, Fiepen“, so die junge Landwirtin

EIN GEFÜHL WIE NACH HAUSE KOMMEN
Madeleine sitzt auf ihrer Küchenbank im Bauernhaus und blickt in die Kamera. Ein Gespräch zwischen Österreich und Deutschland, über Video. Es ist zehn Uhr morgens, Madeleine ist seit vier Stunden wach, hat bereits die Kühe gefüttert und die Hühner und den Schweinestall ausgemistet.

Jetzt erzählt sie, wie es dazu kam, dass sie heute in genau dieser Küche sitzt. Gern wäre sie auf einem Bauernhof aufgewachsen, sagt Madeleine. Stattdessen wurde sie in einem kleinen Ort bei Köln groß, Tier und Natur sind schon früh ihr Herzensthema. In ein Freundebuch schreibt sie ihren Berufswunsch: „Bauernhoffrau.“ Nach der Schule studiert sie jedoch erst einmal Geschichte. Reist viel, bloggt, teilt ihre Erlebnisse in den sozialen Medien. So auch einen Trip nach Österreich: Mit Zelt, Isomatte und Büchern im Kofferraum fährt sie los. Sie will wandern, allein sein und landet schließlich auf dem Campingplatz des Lindlerhofs in Kärnten. Eine Nacht will sie bleiben, am Ende sind es zehn.

In den nächsten Tagen hilft Madeleine im Stall mit, einfach so – und verliebt sich dabei in Blume, eine alte Kuhdame mit einem Fell so weich wie das eines Stofftiers, wie Madeleine erzählt. Und vielleicht auch schon ein bisschen in Lukas, jüngster der drei Söhne des Bauern. 

Liebesbeweis: Nicht nur Madeleine, auch die Kuh hat sich offenbar in den Sohn des Hauses verliebt … Doch diese Harmonie, schreibt Madeleine auf Instagram, herrscht bei dem jungen Paar nicht immer. Differenzen gibt es auch

„Es hat sich angefühlt wie nach Hause kommen“, sagt Madeleine. Ihre Augen leuchten beim Erzählen. Daraufhin fährt Madeleine immer wieder nach Kärnten, bis sie schließlich einen ganzen Sommer auf dem Hof aushilft. Sobald sie kann, geht sie Kühe kuscheln: zu Blume und den anderen, krault die weichen Ohren, legt sich auf die knochigen Rücken, lässt die schweren Kuhköpfe in ihrem Schoß ruhen. Sie postet Bilder von diesem anderen Leben, teilt ihre Freude. „Meine Freundinnen sagten: ,Du strahlst so, du wirkst so angekommen.‘ Und so war es. Du stehst da, hast stinkende Klamotten an und Kuhmist im Haar. Aber du bist total zufrieden.“ Zu Hause, sagt Madeleine, wartete dagegen nichts auf sie. Ihr Studium? Abgeschlossen. „Aber trotzdem kann man das keinem erzählen. Dass du fünf Jahre lang studiert hast und dann Kühe hüten willst“, sagt sie, lächelt und zuckt mit den Schultern. Vor allem ihr Vater ist skeptisch. „Mit dem ganzen Potenzial in deinem Kopf willst du im Stall stehen?“, fragt er. Ja, das will sie. Sie weiß nur nicht, wie. Dann, wenige Tage vor Madeleines Abreise, kommt Peter, der Besitzer des Bauernhofs, zu ihr in den Stall. Sein Pächter gebe den Hof auf. Doch allein, so Peter, könne er das nicht stemmen. Ob sie ihm helfen wolle? Fest für ihn arbeiten?

„Plötzlich hat sich alles gefügt. Ich musste nur noch zugreifen“, sagt Madeleine. Sie verabschiedet sich von ihrem alten Zuhause, den Freunden und von festen Arbeitszeiten und zieht nach Mörtschach, einer Gemeinde mit 824 Einwohnern. Auf den Lindlerhof, mit 18 Kühen, fünf Kälbern, einer Handvoll Kaninchen, zwei Schweinen, 60 Hennen, zwei Katzen. Und zu Lukas. Denn in den ist sie mittlerweile mehr als nur ein bisschen verliebt. Jetzt wohnen sie zusammen im großen Bauernhaus, gemeinsam mit dem Rest der Familie, aber in einer eigenen Wohnung. 

„Ich habe in den letzten Jahren gemerkt: Das Leben spielt, wie es spielt. Ich mache keine großen Pläne.“

AUCH EINE IDYLLE HAT GRENZEN
Ab jetzt sieht sie Blume, ihre Lieblingskuh, täglich. Baut kiloweise Gemüse auf ihrem eigenen Beet an, das so groß ist wie ein Hockeyfeld. Ist dabei, wenn die Kälber nachts zur Welt kommen und über den Stallboden staksen. Genießt die Berge. Die Natur. Die Ruhe. Das Angekommensein.

Doch neben all der Idylle sind da auch die Rückenschmerzen von der vielen Arbeit. Die Männer, die Madeleine fleißig nennen und „a fesches Dirndl“, aber die auch sagen: „Das kannst du doch net heben!“ Da sind die Tage ohne Feierabend. Kühe, die kein Wochenende kennen. Und da ist jedes Jahr dieser Moment, in dem die Kühe aussortiert werden. In ihrem ersten Herbst als Bäuerin entscheidet Madeleines Quasi-Schwiegervater, dass Blume zu wenig Milch gibt – und den Winter nicht mehr erleben wird. Madeleine will das nicht akzeptieren, möchte mit Unterstützung ihrer Follower die Kuh retten, ihr so ein Gnadenbrot sichern. Der Bauer lehnt ab.

Also holt sie selbst Blume aus dem Stall, als der Schlachter vorfährt. Führt sie nach draußen, in den Viehhänger. „Du machst das Halsband los und schickst die Kuh in den Anhänger. Sie geht, weil sie dir vertraut. Am Ende hast du das leere Halsband in der Hand. Es ist furchtbar“, sagt Madeleine. Danach steht sie hinter der Stalltür, Blumes Halsband und die Marke aus ihrem Ohr in der Hand, und weint.

Als Madeleine davon erzählt, steigen ihr Tränen in die Augen. „Ich mache meinen Job deshalb so gut, weil ich meine Tiere so liebe.“ Sie hat viele Ideen, möchte ihren Kühen ermöglichen, ihren Lebensabend auf dem Hof zu verbringen. Den Milchbetrieb reduzieren und das Geld stattdessen mit Touristen verdienen, die für eine Auszeit kommen. „So hätten wir die Mittel, um den Kuh-Omas ihren Lebensabend zu finanzieren. Für meinen Freund und seine Eltern ist es normal, dass eine Kuh nicht ihr ganzes Leben bei uns bleibt. Ich will mich nicht daran gewöhnen“, sagt Madeleine. Für sie sind die Tiere Freunde, kein Lebensmittel. „Die Situation ist herausfordernd. Manchmal muss ich mich auf die Hinterbeine stellen, um gehört zu werden, manchmal muss ich wissen, wann ich die Klappe halte. Ein schmaler Grat. Ich übe noch.“ 

Anpflanzen, in der Erde buddeln, ernten, einmachen – Madeleine genießt die Möglichkeiten, die ihr der Hof und das Leben dort bieten, sehr. Sie ist jetzt eine echte „Bauernhoffrau“ – so lautete ihr Berufswunsch als Kind

Nach einem Jahr auf dem Hof können sich die Schwiegereltern Madeleines Festanstellung nicht mehr leisten, zumindest nicht im Winter. Doch Madeleine kann die Lücke schnell schließen. Ein Verlag hatte bei ihr angefragt, ob sie ein Buch über ihr Leben schreiben möchte. Jetzt hat sie dafür die Zeit. „Als die E-Mail kam, stand ich gerade mitten auf dem Hof. Ich habe vor Freude so laut gequietscht, dass mein Schwiegervater besorgt um die Ecke gerannt kam.“ Für ihre Instagram-Seite bekommt sie zudem zahlreiche Anfragen für Kooperationen. „Da dachte ich: Gut, man muss die Feste feiern, wie sie fallen“, lacht Madeleine. Und: „Ich habe in den letzten Jahren gemerkt: Das Leben spielt, wie es spielt. Klingt kitschig, ist aber so, und deshalb bin ich in den letzten Jahren davon abgekommen, große Pläne zu machen – das funktioniert eh nicht.“ Was sie weiß: dass es sich richtig anfühlen muss. „Dann ist es völlig egal, was andere davon halten. Im Endeffekt kommt es nur auf dich an. Wem musst du es recht machen außer dir selbst in deinem Leben? Das ist der Maßstab.“

Zäune ausbessern, Weiden ablaufen, Tränken kontrollieren, all das gehört zur Hofarbeit. Auch, wenn es in Strömen regnet und man völlig durchnässt ist. Hat man alles geschafft, stellt sich ein „MacGyver“-Gefühl ein, so Madeleine

Im Sommer wird sie wohl wieder auf dem Hof arbeiten können. „Wie wir das organisieren, schauen wir noch“, sagt Madeleine. Aber ohneeinander gehe es nicht, weder für die Familie noch für Madeleine selbst. „Ich wohne ja hier im Haus und kann es mir schlecht vorstellen, im Sommer, wenn alle herumrennen und so viel zu tun haben, in meiner Küche zu sitzen und mein eigenes Ding zu machen. So funktioniert ein Familienbetrieb nicht“, sagt Madeleine. Sie wird also wieder in die Gummistiefel steigen. Die Kälber an den Ohren kraulen, sie morgens auf die Weide treiben und abends zurück in den Stall. „Darauf freue ich mich jetzt schon!“, sagt sie und klingt glücklich.